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Toni Sender aus Biebrich |
„Die
politische Demokratie befindet sich in akuter Gefahr, wenn sie nicht
von der Wirklichkeit sozialer Gerechtigkeit begleitet wird.“
Treffender könnte die aktuelle Lage nicht beschrieben werden, doch
stammt dieser Satz von Sidonie Zippora Sender, die vor knapp
130 Jahren in Biebrich geboren wurde. Manch einem ist sie besser als
Toni oder Tony Sender bekannt. Sie gehörte von 1920 bis 1933
dem Reichstag an. Eine Flucht in die USA war in der Nazi-Diktatur
unausweichlich. Dort starb sie 1964. Sie war eine leidenschaftliche
Kämpferin für die Demokratie. Mit Begeisterung und unbändigem Elan
warb sie für die Ideale der Freiheit und die Würde des Menschen.
Verschiedentlich wird ihr gedacht – Einrichtungen tragen ihren
Namen, die Stadt Frankfurt vergibt den Tony-Sender-Preis und eine
Akademie der SPD hat sie als Namensträgerin auserkoren. Es wäre
vermessen von mir, erahnen zu wollen, wie sie der heutigen SPD die
Leviten lesen würde. Also, lassen wir es. Eine Rückkehr nach
Deutschland schied für sie aus - „Zu viele Menschen haben
zugeschaut, als dort Niedertracht herrschte.“
Die Würde des
Menschen – selbst im 21. Jahrhundert scheint noch nicht allen klar
zu sein, Menschen sind nicht nur Männer. Und die Würde ist
unantastbar, so will es unser Grundgesetz. Jeder Mensch –
gleich welchen Geschlechts, welcher Herkunft, welcher Religion,
welcher Rasse – ist nach dem Willen unserer Verfassungsväter und
-mütter geschützt vor „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung,
Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder den Staat
selbst“, wie das Bundesverfassungsgericht u. a. am 15. Februar 2006
entschieden hat. Mehr noch, „... zum Wesen des Menschen gehört, in
Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, ...“.
Schwierige Sätze für z. B. Religionsgemeinschaften (komisch, dass
hier immer noch keine Konkordate gekündigt wurden) oder auch den DFB
– gut, immerhin erhalten die Nationalspielerinnen mittlerweile
einen ordentlichen Geldbetrag nach dem Gewinn eines internationalen
Wettbewerbs. Das war 1989 nach dem Gewinn der Europameisterschaft mit
der überragenden Marion Isbert noch anders. Da bekam jede
Spielerin als Siegprämie ein Kaffeeservice; zweite Wahl versteht
sich. Wie wohl die männlichen Weltmeister 1990 auf eine solche
Prämie reagiert hätten?
Es
hat sich viel getan. Gut so. Ein weiter Weg. Vom Frauenwahlrecht
1919 (die nordischen
Länder waren da schneller – dafür hat halt Norwegen 1989 das
Finale gegen unsere Fußballerinnen verloren) über die Abschaffung
der Zustimmung zur Kontoeröffnung oder des Abschlusses eines
Arbeitsvertrages bis zur Übernahme von Führungspositionen und der
nahezu unendlichen Amtszeit einer Kanzlerin. Angela
Merkel war in den
90igern einmal Ministerin für Frauen und Jugend. Dieses Ministerium
hieß in der jungen Bundesrepublik Ministerium für
Familienfragen. Und der erste Minister, Franz-Josef
Wuermeling, begriff
sein Ministerium noch als „Abwehrinstanz“ gegen die
Gleichberechtigung der Frau. Gerade mal 60 Jahre her.
Die
große Marianne Adelaide
Hedwig Dohm (1831
– 1919) würde im Grab rotieren. Eine begnadete Schriftstellerin
und Autorin. Ihr Mann Ernst
Dohm war einer der
ersten Redakteure und Chefredakteur der 1848 gegründeten
Satirezeitschrift Kladderadatsch.
Ihn
gilt es in anderem Zusammenhang ausgiebig zu würdigen. Aber, es passt hier durchaus der abgenutzte
Spruch
auch umgekehrt: Hinter jeder erfolgreichen Frau steht oft auch ein
Mann, der sie stützt. Damals noch wichtiger als heute. Immerhin
benennen wir mittlerweile einen modernen ICE nach ihr. Hedwig
Dohm
forderte bereits 1873 das Frauenwahlrecht, und formulierte so
eindringlich: „Die
Menschenrechte haben kein Geschlecht
.“ Sie war für ihre Zeit ziemlich radikal, keine Frage. Ein Zitat
von ihr klingt nach einem Lebensmotto: „Glaube nicht, es muß so sein, weil es so ist und immer
so war. Unmöglichkeiten sind Ausflüchte steriler Gehirne. Schaffe
Möglichkeiten.“ Es
ist Zeit für Veränderungen.
Dabei
ging es ihr nicht nur um Frauenrechte. Im 21. Jahrhundert sind wir
immer noch dabei, Menschen gegeneinander auszuspielen – Junge gegen
Alte, Gesunde gegen Kranke, Frauen gegen Männer, Deutsche gegen
Ausländer, die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Es braucht
mehr Würde und Anstand im Umgang miteinander. Aktuell gerade auch in
den Sozialen Medien. Die Form der schnellen Beleidigung und
Herabsetzung ist mehr als besorgniserregend.
Vielleicht
hilft da der 08. März. Brauchen wir ihn? Alice
Schwarzer
hat schon 2010 für eine Abschaffung plädiert. Ich weiß nicht. Das
Datum selbst geht ja auf den
Streik der Frauen in Petersburg 1917 zurück, auch wenn Clara
Zetkin
schon vor dem 1. Weltkrieg in Berlin entsprechende Veranstaltungen
organisiert hatte. Unerschütterlich
hält sich der Mythos vom Streik der Textilarbeiterinnen 1857 (das
Geburtsjahr von Zetkin) in New York. Sei es drum.
Heute
geht es um mehr –
weltweit
erleben wir immer noch eine ungeheuerliche Missachtung von Menschen,
Übergriffe der übelsten Art. Und es gibt noch viel zu tun, wenn man
sich vor Augen führt, dass es
tatsächlich auch Armut in Deutschland (und nicht nur ein
Armutsrisiko) gibt, in vielen Ländern Millionen von Mädchen zu
Eheschließungen
gezwungen werden, unendlich
viele Menschen weiterhin keinen Zugang zu sauberem Wasser haben,
weltweit in 2016 über 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor
Krieg, Konflikten und humanitären Katastrophen waren. Es sind nur
Beispiele, Schlaglichter der Gegenwart. Und dabei habe ich noch gar
nicht über die alltäglichen, irgendwie vermeintlich kleinen und
doch nachhaltigen Würdelosigkeiten, die Achtlosigkeiten und
Respektlosigkeiten, denen wir alle mehr oder weniger Tag für Tag
immer wieder begegnen (und sie vielleicht auch selbst begehen),
geschrieben.
Die
großen Frauenrechtlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts waren immer
auch Freiheitskämpferinnen. Im Gegensatz zu ihren männlichen
Mitstreitern hatten sie aber stets die schwierigere, schlechtere
Ausgangsposition. Ihr
Einsatz, ihr Mut und ihre Visionen für Rechte, die uns
selbstverständlich sein sollten, verdienen daher immer wieder
besonderer Beachtung und Würdigung. Sie wussten aber auch, Freiheit,
Demokratie und Gleichheit braucht soziale Gerechtigkeit. Was für
eine wunderbare Aufgabe gerade auch für unsere neue Bundesregierung.
Und dabei geht es, bei allem Respekt, nicht um Sprache oder gar
einzelne Worte, es geht um Taten!
Bildnachweis:
Von unbekannt - Büro des Reichstags (Hg.): Reichstags-Handbuch 1928,
IV. Wahlperiode, Verlag der Reichsdruckerei, Berlin 1928.