Mittwoch, 7. März 2018

Kladderadatsch

Toni Sender aus Biebrich
Die politische Demokratie befindet sich in akuter Gefahr, wenn sie nicht von der Wirklichkeit sozialer Gerechtigkeit begleitet wird.“ Treffender könnte die aktuelle Lage nicht beschrieben werden, doch stammt dieser Satz von Sidonie Zippora Sender, die vor knapp 130 Jahren in Biebrich geboren wurde. Manch einem ist sie besser als Toni oder Tony Sender bekannt. Sie gehörte von 1920 bis 1933 dem Reichstag an. Eine Flucht in die USA war in der Nazi-Diktatur unausweichlich. Dort starb sie 1964. Sie war eine leidenschaftliche Kämpferin für die Demokratie. Mit Begeisterung und unbändigem Elan warb sie für die Ideale der Freiheit und die Würde des Menschen. Verschiedentlich wird ihr gedacht – Einrichtungen tragen ihren Namen, die Stadt Frankfurt vergibt den Tony-Sender-Preis und eine Akademie der SPD hat sie als Namensträgerin auserkoren. Es wäre vermessen von mir, erahnen zu wollen, wie sie der heutigen SPD die Leviten lesen würde. Also, lassen wir es. Eine Rückkehr nach Deutschland schied für sie aus - „Zu viele Menschen haben zugeschaut, als dort Niedertracht herrschte.“ 
Die Würde des Menschen – selbst im 21. Jahrhundert scheint noch nicht allen klar zu sein, Menschen sind nicht nur Männer. Und die Würde ist unantastbar, so will es unser Grundgesetz. Jeder Mensch – gleich welchen Geschlechts, welcher Herkunft, welcher Religion, welcher Rasse – ist nach dem Willen unserer Verfassungsväter und -mütter geschützt vor „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder den Staat selbst“, wie das Bundesverfassungsgericht u. a. am 15. Februar 2006 entschieden hat. Mehr noch, „... zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, ...“. Schwierige Sätze für z. B. Religionsgemeinschaften (komisch, dass hier immer noch keine Konkordate gekündigt wurden) oder auch den DFB – gut, immerhin erhalten die Nationalspielerinnen mittlerweile einen ordentlichen Geldbetrag nach dem Gewinn eines internationalen Wettbewerbs. Das war 1989 nach dem Gewinn der Europameisterschaft mit der überragenden Marion Isbert noch anders. Da bekam jede Spielerin als Siegprämie ein Kaffeeservice; zweite Wahl versteht sich. Wie wohl die männlichen Weltmeister 1990 auf eine solche Prämie reagiert hätten?
Es hat sich viel getan. Gut so. Ein weiter Weg. Vom Frauenwahlrecht 1919 (die nordischen Länder waren da schneller – dafür hat halt Norwegen 1989 das Finale gegen unsere Fußballerinnen verloren) über die Abschaffung der Zustimmung zur Kontoeröffnung oder des Abschlusses eines Arbeitsvertrages bis zur Übernahme von Führungspositionen und der nahezu unendlichen Amtszeit einer Kanzlerin. Angela Merkel war in den 90igern einmal Ministerin für Frauen und Jugend. Dieses Ministerium hieß in der jungen Bundesrepublik Ministerium für Familienfragen. Und der erste Minister, Franz-Josef Wuermeling, begriff sein Ministerium noch als „Abwehrinstanz“ gegen die Gleichberechtigung der Frau. Gerade mal 60 Jahre her.
Die große Marianne Adelaide Hedwig Dohm (1831 – 1919) würde im Grab rotieren. Eine begnadete Schriftstellerin und Autorin. Ihr Mann Ernst Dohm war einer der ersten Redakteure und Chefredakteur der 1848 gegründeten Satirezeitschrift Kladderadatsch. Ihn gilt es in anderem Zusammenhang ausgiebig zu würdigen. Aber, es passt hier durchaus der abgenutzte Spruch auch umgekehrt: Hinter jeder erfolgreichen Frau steht oft auch ein Mann, der sie stützt. Damals noch wichtiger als heute. Immerhin benennen wir mittlerweile einen modernen ICE nach ihr. Hedwig Dohm forderte bereits 1873 das Frauenwahlrecht, und formulierte so eindringlich: Die Menschenrechte haben kein Geschlecht .“ Sie war für ihre Zeit ziemlich radikal, keine Frage. Ein Zitat von ihr klingt nach einem Lebensmotto: „Glaube nicht, es muß so sein, weil es so ist und immer so war. Unmöglichkeiten sind Ausflüchte steriler Gehirne. Schaffe Möglichkeiten.“ Es ist Zeit für Veränderungen.
Dabei ging es ihr nicht nur um Frauenrechte. Im 21. Jahrhundert sind wir immer noch dabei, Menschen gegeneinander auszuspielen – Junge gegen Alte, Gesunde gegen Kranke, Frauen gegen Männer, Deutsche gegen Ausländer, die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Es braucht mehr Würde und Anstand im Umgang miteinander. Aktuell gerade auch in den Sozialen Medien. Die Form der schnellen Beleidigung und Herabsetzung ist mehr als besorgniserregend.
Vielleicht hilft da der 08. März. Brauchen wir ihn? Alice Schwarzer hat schon 2010 für eine Abschaffung plädiert. Ich weiß nicht. Das Datum selbst geht ja auf den Streik der Frauen in Petersburg 1917 zurück, auch wenn Clara Zetkin schon vor dem 1. Weltkrieg in Berlin entsprechende Veranstaltungen organisiert hatte. Unerschütterlich hält sich der Mythos vom Streik der Textilarbeiterinnen 1857 (das Geburtsjahr von Zetkin) in New York. Sei es drum.
Heute geht es um mehr – weltweit erleben wir immer noch eine ungeheuerliche Missachtung von Menschen, Übergriffe der übelsten Art. Und es gibt noch viel zu tun, wenn man sich vor Augen führt, dass es tatsächlich auch Armut in Deutschland (und nicht nur ein Armutsrisiko) gibt, in vielen Ländern Millionen von Mädchen zu Eheschließungen gezwungen werden, unendlich viele Menschen weiterhin keinen Zugang zu sauberem Wasser haben, weltweit in 2016 über 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Konflikten und humanitären Katastrophen waren. Es sind nur Beispiele, Schlaglichter der Gegenwart. Und dabei habe ich noch gar nicht über die alltäglichen, irgendwie vermeintlich kleinen und doch nachhaltigen Würdelosigkeiten, die Achtlosigkeiten und Respektlosigkeiten, denen wir alle mehr oder weniger Tag für Tag immer wieder begegnen (und sie vielleicht auch selbst begehen), geschrieben.
Die großen Frauenrechtlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts waren immer auch Freiheitskämpferinnen. Im Gegensatz zu ihren männlichen Mitstreitern hatten sie aber stets die schwierigere, schlechtere Ausgangsposition. Ihr Einsatz, ihr Mut und ihre Visionen für Rechte, die uns selbstverständlich sein sollten, verdienen daher immer wieder besonderer Beachtung und Würdigung. Sie wussten aber auch, Freiheit, Demokratie und Gleichheit braucht soziale Gerechtigkeit. Was für eine wunderbare Aufgabe gerade auch für unsere neue Bundesregierung. Und dabei geht es, bei allem Respekt, nicht um Sprache oder gar einzelne Worte, es geht um Taten!




Bildnachweis: Von unbekannt - Büro des Reichstags (Hg.): Reichstags-Handbuch 1928, IV. Wahlperiode, Verlag der Reichsdruckerei, Berlin 1928.