Mittwoch, 30. August 2017

Von Kennern, Trinkern und Genießern

Immer, wenn ich über Wein lese, die vielfältigen Weinbeschreibungen und -bewertungen sehe, die nahezu astronomischen Punktzahlen für so unendlich viele Weine begründet bekomme, bei Facebook in den einzelnen Weingruppen die manchmal mit ungeheurer Vehemenz geführten Diskussionen über den einen oder anderen Weinstil zur Kenntnis nehme, und immer wieder über die Vielfalt der Weinwelt staune, dann fällt mir Sokrates ein - „οἶδα οὐκ εἰδώς” (von Cicero leicht fehlerhaft mit “Scio me nihil scire” - “Ich weiß, dass ich nichts weiß” übersetzt). Ich bewundere die oftmals sehr geschliffenen Verkostungs-notizen, die mit elektrisierender Hingabe beschriebenen Weine – ich stelle mir dann vor, wie der oder die weinaffine Schreiber oder Schreiberin bei der Verkostung außer Rand und Band gerät, der probierte Wein ein Heilsversprechen darstellt und der porträtierte Winzer als neuer Messias erscheint. Die Weinwelt ist voller Päpste, mehr als die Katholische Kirche je haben wird – inkl. Gegenpäpste. 
 
Weinbeschreibungen und Verkostungsnotizen können für den gemeinen Wein-konsumenten eine gute und sinnvolle Entscheidungshilfe sein. Sie sind aber keine Offenbarungen. Letztendlich sind sie Ausdruck einer subjektiven Verarbeitung und Bewertung der durch die Sinne aufgenommenen Reize im Gehirn. Nicht mehr und nicht weniger. Wein muss verkauft werden. Es ist ein Markt. Und natürlich soll und muss der Kunde verführt werden – schon beim Kauf. Das heißt nicht, dass alle Beschreibungen und Lobeshymnen falsch sind, manche sind eben nur in meinen Augen absurd. Es darf jeden Weintrinker trösten: Ein mit 95 von 100 Punkten oder mit 5 von 5 Punkten bewerteter Wein kann (und oft trifft das auch zu) in der Tat ein echtes Highlight sein, aber in der Häufigkeit der höchsten Punktvergaben ist dies eben nicht immer der Fall. 
 
Der Konsument muss sich für sein Geschmacksempfinden nicht schämen. Es muss nicht immer alles allen schmecken. Es gibt auch keine Verpflichtung zur Punkte-Gläubigkeit. Bei vielen meiner Weinveranstaltungen erlebe ich Gäste, die nahezu verschämt von ihren 'einfachen' Lieblingsweinen erzählen – oft bei einem kleinen, fast namenlosen Winzer oder gar im Supermarkt gekauft. Nicht immer mein Fall, aber, ihnen gefallen diese Weine. Andere erzählen mir voller Stolz, welche namhaften Güter sie weltweit schon in ihrem Keller hatten und haben. Ob jene in einer Blindverkostung die Weine richtig zuordnen würden? Wer weiß. Es gibt wirkliche Weinkenner. Ja! Vor ihnen verneige ich mich. Nicht jeder, der sich einen tollen Wein leisten kann, darüber ausschweifend schreibt oder ihn gar getrunken hat, ist jedoch einer. 
 
Wein verlangt Demut. Die des Winzers in den Weinbergen und im Keller, die des Konsumenten, der die Arbeit des Winzers zu schätzen wissen sollte. Jeder Wein hat eine Herkunft, eine Geschichte, die er uns erzählen will. Wir trinken ihn zu unzähligen Anlässen. Und hören ihm nicht zu. Dabei erfahren wir nahezu alles über den Wein, wenn er langsam unsere Lippen benetzt, die Zunge umschmeichelt, den Gaumen küsst und uns mit vielfältigen Aromen betört. Er will uns seine Geschichte erzählen – vom Wachsen auf steinigem Boden und seinen tiefen Wurzeln, den warmen Sonnenstrahlen und den kühlen Nächten, seiner Angst vor Sturm und Hagel, den schwieligen Händen der Weinbergsarbeiter, die mit zarter Kraft die Trauben ernten, der Arbeit im Keller und der Freude über seine Reife. Er schmiegt sich an uns, erinnert uns an laue Urlaubsabende, eindrucksvolle Begegnungen, köstliche Essen, verblasste Lieben und hingebungsvolle Freuden. Im Genuss kosten wir Geheimnisse. Salvador Dalí formulierte es einmal ähnlich. Am Ende ist es aber nur Wein, der getrunken werden will. Trinkt, was Euch schmeckt. Aber trinkt! Es ist übrigens die beste Übung zur Entdeckung guter Weine...