Montag, 15. Mai 2017

Nil admirari!

Nichts bewundern! Dieser Pythagoras von Samos zugeschriebene Satz begeistert, nein, beschäftigt mich gerade jetzt in dieser aktuellen politischen Lage ganz besonders. Früher, ja früher, da war es ein anderer Satz von ihm – mit Katheten- und Hypotenusenquadraten. Diesen Satz habe ich nicht bewundert, lernen musste ich ihn! Wofür? Ich weiß es immer noch nicht. Man muss nicht alles verstehen, um zu wissen.

Zurück zur politischen Lage. Zu aktuellen Vorgängen wollte ich grundsätzlich nicht mehr schreiben. Schnelllebig, oberflächlich, nahezu platt äußern sich im Sekundentakt zu jedem Anlass irgendwelche Experten und weitere bedeutungsvolle Menschen. Unvollständig, fehlerhaft, aber auf jeden Fall aufgeregt. Wüsste ich es nicht besser, tagtäglich müsste ich den sofortigen Untergang der Welt befürchten. In den nächsten Tagen werden die Talkshows jeden Abend wieder die Zukunft von Martin Schulz diskutieren, überall Artikel und Kommentare über das Ereignis in NRW. So hart es klingen mag: In einer Demokratie sind Regierungswechsel ein ganz normaler Vorgang. Nicht mehr ist in Nordrhein-Westfalen passiert. Vor wenigen Monaten konnte man die christdemokratischen Ministerpräsidenten in Deutschland noch an einer Hand abzählen. Hannelore Kraft hatte ihre Chance, jetzt darf es eben Armin Laschet versuchen. Nil admirari! Er bewertet zwar Arbeiten, die gar nicht geschrieben wurden. Egal. Andere können noch nicht einmal einen Flughafen verkaufen, geschweige denn bauen. Demokratie eben. Die Bürger haben eine Entscheidungs- und damit eine Gestaltungsmöglichkeit. Die Ergebnisse müssen nicht immer jeden erfreuen.

Und natürlich werden in Wahlkämpfen oft Dinge versprochen, die einem Heile-Welt-Szenario entsprungen sein müssen. Daher erfolgt in aller Regel nach Regierungsübernahme ein 'Kassensturz' – die Wahlsieger erden sich. Der Staat ist eben doch keine Kathedrale der Gerechtigkeit.

Diese Erkenntnis erstickt unsere Gesellschaft heute gerne mit einem Wahn des Korrekten. Freundlichkeit im Alltag kann da schon leicht übergriffig wirken. Es erinnert einen an den Roman von Andrew Roberts "Das Aachen Memorandum". London im Jahre 2045. Ein Journalist entdeckt eine ungeheure Verschwörung: Manipulierte Abstimmungen haben aus dem stolzen Großbritannien einen Wurmfortsatz der Vereinigten Staaten von Europa gemacht. Brexit lässt grüßen. Die schlimmsten Phantasien George Orwells werden in dieser fiktiven Geschichte aus dem Jahre 1998 weit übertroffen. Und so einiges ist heute schon Wirklichkeit geworden. Lassen wir es dabei bewenden.

Dieser Wahn des Korrekten ist bei uns gerade bei den Terrorermittlungen gegen einen Offizier der Bundeswehr, nicht einfach nur ein Soldat, wieder sehr präsent. Aktionismus soll offensichtliches staatliches Versagen übertünchen. Es wird wieder gelingen. Wie so oft.

Kasernen werden durchsucht, umbenannt, Bilder abgehängt, Lieder verboten. Wenn wir dies wirklich alles ernst meinten, dann müssten wir auch unsere Nationalhymne, deren Einführung unsere europäischen Freunde 1952 takt- und geschmacklos fanden, ändern, den Tag der Arbeit und Muttertag verbieten. Lächerlich. Ja. Es soll auch nur zeigen, wie wir uns wieder in Nebensächlichkeiten verlieren.

Die Kernfrage mag der Boulevard nämlich nicht: Wie kann in unserem Staat ein deutscher Offizier, dessen rechtsradikale Haltung bereits 2014 in der Bundeswehrführung thematisiert wurde, am 30. Dezember 2015 als syrischer Flüchtling registriert und anerkannt werden?

Dies führt mich zu Anis Amri. Hier wird staatliches Versagen mehr als augenfällig. Trotz der ständigen Unschuldsbeteuerungen des bisherigen nordrhein-westfälischen Innenministers. Da sitzt ein Flüchtling knapp vier Jahre in Italien wegen diverser Straftaten im Gefängnis. Kommt nach Deutschland. Begeht hier weitere Straftaten, wird beobachtet, mehrfach als Gefährder eingestuft, bedient sich neun verschiedener Identitäten. Und nichts passiert. Bis zu dem tragischen Ereignis auf dem Berliner Weihnachtsmarkt.

Seit Jahren verfolge ich den NSU-Prozess in München. In meinen Augen eine wichtige Aufarbeitung von Geschehnissen in der rechten Szene. Da darf es auch überraschen, dass ein Verfassungsschützer, der ohne Zweifel beim NSU-Mord in Kassel zumindest den Schuss gehört und die Leiche gesehen haben muss, immer noch im Landesdienst beschäftigt ist.

Nil admirari! Nichts bewundern und sich auch nicht wundern. Diese Gnade der Athaumasie mag ein Grad der Vollendung sein, den ich mir nicht vorstellen kann. Ich bewundere Menschen, die Haltung zeigen, Verantwortung übernehmen und für unsere freiheitliche, offene und bunte Gesellschaft einstehen. Und ich wundere mich über die Gleichgültigkeit eben jener Gesellschaft beim Umgang mit unseren Verfassungsfeinden.